Das Wetter sollte mitspielen. Allerdings sind für Nachmittag Gewitter angesagt. Darum will ich etwas riskieren. Es geht für die Jahreszeit hoch hinaus. Es muss mit Schneefeldern gerechnet werden. Dann, für das etwas instabile Wetter gilt die Regel, dass wenn ich Regenjacke, Regenhut, Schirm und Regenüberzug für den Rucksack – alles Mögliche einpacke, dass ich mich dann darauf verlassen kann, dem Regen ein Schnippchen zu schlagen. Aber wie war das mit der Ausnahme und der Regel?
Die Nacht davor war ein reines Desaster. Aber ich weiss, wenn ich nur schon eine Stunde unterwegs bin, dann hat der Schlafraubritter keine Chance, das Gehen – ja, das Gehen. Gehen sollte ärztlich verschrieben werden. Denn ausdauerndes Gehen versöhnt die beiden Hirnhälften. Gehen vereint, Hand in Hand. Nicht nur für Normalbürger. Man sollte Gehen vor Allem für Egomanen und Politikern mit Hang zu Tyrannei zur Kur verschreiben. Das würde viel, viel Leid verhindern.
Trotz dem allermiesesten Schlaf, den ich in letzter Zeit erdulden musste – der Vollmond forderte grob seinen Tribut – riskiere ich den Weg über Rotärd, wie das heisst und weiter über den «Schoggigrat» und die Fessisseelein wieder zurück zum Ausgangsort Bärenboden, der bis noch vor wenigen Jahren mit einer simplen Kiste bedient worden war.
Eine der spektakulärsten Touren im Glarnerland, aber spektakulär ist für mich ganz und gar nicht der passende Ausdruck. Immer diese Superlativen. Nein, hier oben schlägt mein Herz höher, nicht wegen der Höhe, sondern weil ich mich hier oben wie zuhause fühle, unbekümmert verschiedenste Routen wählen kann, es ist fast wie eine Hochebene mit kleinen Berggipfeln, Mulden, kleinen Seen und in alle Richtungen verlaufende Möglichkeiten. Manchmal sogar weglos und nach der «Rotärd» dann unterhalb des Schwarzstöggli einfach queren, wie querfeldein. Wunderbar, Wege sind zwar praktisch und führen, wie man so sagt, zum Ziel. Ist man aber nicht in der Lage, sein eigenes Ziel zu definieren, dann gut Nacht! Dann sehe ich sie: die Steinböcke! Ich weiss längst davon, und einmal, am «Schoggigrat» haben sie sich praktisch quergelegt, dass man fast darübersteigen hätte müssen, wenn da nicht die Alarmglocke angefangen hätte, sich bemerkbar zu machen. Es ziemt sich nicht, einem Bock zu nahe zu kommen. Sie mögen das sehr wahrscheinlich nicht. Könnte nämlich fatale Folgen haben. Sonst aber scheinen sie äusserst friedliebend zu sein. Deckung hier oben ist so rar, wie die Luft dünn ist.
Auch sie haben mich bemerkt, sie geraten in Bewegung. Ich auch. Ich ändere meinen Kurs. Jetzt habe ich ein Ziel, mein Weg wird jetzt nicht nur von meinen Füssen bestimmt. Jagdtrieb? Nein, ich arbeite mich behutsam voran. Nur ja keine falsche Bewegung, auch meine Gedanken weise ich in Schranken. Sie sollen spüren, dass ich mit hehren Absichten auf sie zugehe. Selbst den Rucksack setze ich behutsam ab, um meine Kamera rauszuholen. Mache ein Foto. Gehe näher ran, steige etwas höher. Mache wieder Fotos. Die Situation scheint sich zu beruhigen, nachdem alle sich vorsichtshalber erhoben haben, kratzt sich einer davon am Rücken. Ich denke, sowas hätte ich auch gern. Denn auch mein Rücken juckt oft und genau da, wo ich nicht hinkomme. Ein anderer leckt sein Bein. Alles Anzeichen von majestätischer Gelassenheit. Ich steige ein paar Meter höher, lasse mich am Rand eines Schneefeldes, das mich von der Herde trennt, nieder. So nah bin ich dran. Wunderbar. Was für ein Anblick! Sie ruhen wieder, selbst der Chefbock hat sich wieder hingelegt. Sie wissen, von dem droht keine Gefahr. Sie kehren mir praktisch den Rücken zu. In aller Ruhe kann ich meine Fotos machen, sie werden mir nicht davonrennen. Chefbock überwacht sein Rudel aus seiner höhergelegenen Position. Er hat sich abgewandt, dann, kurz darauf nickt er ein. Nullbock, kein Stress heute.