Meine grossen Reisen fanden noch in einer Zeit statt, in der Skrupel wegen der Schädlichkeit der sorglosen Herumfliegerei noch nicht reif genug waren, um deswegen ganz darauf zu verzichten.
Und überall, immer und immer wieder diese Zollbeamten.
Ja, man könnte sagen, dass es Zöllner im Überfluss gibt. Jeder hat so mehr oder weniger sein eigenes Reich, sein Territorium, das es mit Argusaugen zu beschirmen gilt.
Zöllner sitzen auch in Ämtern und wollen ganz genau wissen, wo das Geld, das sie ja verpflichtet sind, auszugeben, hinfliesst. In diesen Beamten steckt viel Eigennutz. Denn die Bahnen, in die sie «ihr» Geld – begrenzt – fliessen lassen wollen, sind wie ein straffes Schienennetz, mit Bahnhöfen, Gleisen, Weichen und Signalen. Das Geld fliesst nie dahin, wo es keine Gleise gibt. Nicht zuletzt spricht man da auch von «aufgleisen». Warum nur spricht man von «grossem Bahnhof»? Ja, diese Beamten wollen sichergehen, dass sie in dem Bahnhof, wo «ihr» Geld hingeflossen ist, auch würdig empfangen werden. Also im Prinzip nichts als Korruption. In meinem Land, hier Kanton, gibt es auch eine Kulturabteilung. Es ist ein kleines Land, umgeben von hohen, spitzen Bergen, praktisch nur ein einziges, äusserst enges Tal, das deswegen auch einen Spitznamen als «Käseschlitz» verliehen bekommen hat. Kultur ist nicht jedermanns Sache. Kultur muss man sich aneignen, das ist eine Sache der Persönlichkeit. Aber da gibt es noch diese Traditionen und die werden oft zum Leidwesen derer, die unter Kultur vor allem «einen neuen Geist, eine neue Sicht einbringen» wollen, hintangestellt. Das heisst, dass Traditionen unweigerlich in einem Interessenkonflikt mit den «Erneuern» hineingezogen werden. Die einen wollen erhalten, die andern erneuern. Beides hat seine Berechtigung. Aber wir wissen es schon, welches von Beidem Vorrang haben wird, vor allem in einem so konservativen Land, oder hier Kanton genannt. Da sitzt nämlich so ein Beamter, ein Glatzkopf und verteilt seine Gaben ganz nach seinem Gusto, oder eben, wie ihm grad der Käse schmeckt. Und weil es nur ein einziges Schienennetz gibt, das bereits im hintersten Tal seinen Geist aufgeben muss, knatterte seine Scheinheiligkeit mit seinem schweren Motorrad die Stationen seines Reviers ab, die er in sein Navigationsgerät eingegeben hatte. Dass sich ja nichts über die Grenzen, die er selber gesetzt hatte, hinaussickern konnte. Sonst wäre er ja nicht mehr der «Herr» über sein doch sehr begrenztes Territorium. Dann kommt noch die Frage des Horizonts.
Und wer gerne reist und das noch auf «eigene Faust», der macht seine Erfahrungen mit den Grenzbehörden. Und bei denen ist es oft ratsam, die «eigene Faust» besser im Sack zu belassen. Was auch immer geschieht, die Grenzbeamten können launisch sein, sie glauben von sich, sie hätten das exakt richtige Gespür, wenn einer daherkommt und ihnen, ja, weil vielleicht ihnen grad darnach ist, suspekt vorkommt oder schlicht und einfach nicht nach ihrem Gusto ist. Und das ganz besonders dort, wo Fremde eine Rarität sind, ihnen langweilig ist und sie ganz darauf erpicht sind, heute, jetzt, muss ihnen der Coup des Lebens gelingen! Wie heikel solche Momente sein können, haben mir Beamte, Zöllner und Zivilbeamte zur Genüge bewiesen, aber dass mir grad die allerheikelsten Momente mein Leben am Schluss sehr bereichert haben, das hätten sie sich wohl nie träumen lassen. Reisende sind die Antipoden all der Grenzbeamten – sie sind auf ihre Grenze, die Nahtstelle der Nation, fixiert und ich, ich kann ihnen – aber nur ganz heimlich! die lange Nase machen. An der Grenze von Usbekistan nach Tadschikistan musste ich mit sehr viel Fingerspitzengefühl agieren, ansonsten – tja, Karimovs Gefängnisse hatten einen schlimmen Ruf, den man besser nicht überhört.
Geblieben ist mir auch die Szene am Flughafen von Terçeira auf den Azoren. Damals reiste ich noch mit dem Zug nach Lissabon und von dort gab es nur noch eine Verbindung mit dem Flieger. Das war Mitte der achziger Jahre und da waren tatsächlich noch so etwas wie DC-3 im Einsatz. Ich war dem Ruf meines Freundes Gerhard gefolgt, der mich, wie immer lachend, darauf aufmerksam machte, dass in Porto Pim auf Horta eine riesige Walfangstation stillgelegt und vielleicht für mich als Atelier in Frage käme? Warum ich diese weite Reise in Kauf nahm und dazu noch mit dem Zug, ist mir ein Rätsel geblieben.
Künstler müssen eine ganz besondere Anziehungskraft auf Zöllner ausüben. Künstler haben den Ruf, unberechenbar zu sein. Frei wie ein Vogel. Das passt nicht allen. Ihnen muss dringend die Flügel gestutzt, wenn nicht gar gebrochen werden. Mit allen Mitteln. Mit allen dreckigen Mitteln. Schliesslich muss Ordnung herrschen. Und genau das bekam ich auf Terçeira hautnah zu spüren. Ahnungslos sass ich in dem damals noch sehr alten Flughafengebäude und wartete auf den Weiterflug nach Horta. Plötzlich forderte mich ein Mann in Zivil auf, mitzukommen. Naiv, wie ich war, hatte ich mir nicht mal die Frage gewährt, warum. Ich trollte mich mit, weil ich eben mit den Fragen des Lebens sowieso nie hinterherkam. Barsch fragte er mich nach dem Gepäck. Und so mussten wir auf das Rollfeld hinaus und meinen Koffer wieder aus dem Laderaum herausfischen. Ich stellte noch immer keine Fragen. Das hatte mich auch nie jemand gelehrt, ich musste mich dem Leben stellen, ohne selber in der komfortablen Lage zu sein, Fragen stellen zu dürfen. Ich war nie in der Position gewesen, auf mögliche Antworten angemessen zu reagieren. Ich galt als «verstockt». Ich folgte meinem Instinkt und der schlängelte sich möglichst an heiklen Fragen vorbei. Mein schwer – und tiefsitzendes Problem bestand darin, Antworten sinngemäss zu formulieren. Ich reagierte erst dann, wenn es längst zu spät war. Der Zug war abgefahren. Darum hatte ich ja schon als Kind aus reiner Überlebensstrategie meine Zunge verschluckt. Ich musste einen anderen Weg finden. Und ich fand ihn. Ich hatte meine Sprache komprimiert und nach innen verlegt. Daher der plötzliche Entschluss, mich künstlerisch auszudrücken. Für diese Kommunikation brauchte man damals noch keine Zunge. Damals. Und heute?
Und so sass ich einem Raum, den man erst später noch als «Gate» definieren würde. Und da tauchte dieser Mensch auf und es gab kein Pardon.
In einem Nebenraum machte er sich über meine Habseligkeiten her, alles wurde geknackt, selbst die Tube Zahnpaste, nichts entging ihm. Er hatte ein Ding hochgehoben und mich fragend angesehen. Nein, das war keine Frage gewesen, das war reine Herablassung. Was das!? Es war ein vom Strand sandgestrahltes Aluteil, ein Fragment eines kleinen Motors, das ich am Flohmarkt in Lissabon gefunden hatte. Ich sammelte viele solch undefinierbaren Stücke und später, da endlich, würden sie sich sogar in einer noblen Galerie downtown Broadway als Kunst mit einer Selbstverständlichkeit definieren, die eigentlich jeden Zöllner sprachlos werden lassen müsste. Was für eine unsägliche Herablassung! All das musste ich mir immer wieder und wieder von diesen Grenzbeamten gefallen lassen! Und immer glauben diese Beamten, sie wüssten ganz genau, wo die Grenzen von Kunst und Tradition zu ziehen wären! Und mich als Künstler damit an meine Grenzen der Belastbarkeit bringen.
Wie er mich schliesslich ziemlich ratlos und mit dem Resultat unzufrieden, entlassen musste, war mein Flieger längst auf und davon. Sie hätten mich ausgerufen, aber was nützte mir das jetzt. Aber sie versprachen mir, sie würden mich auf den Flieger am nächsten Tag setzen.
Und jetzt kommt der Punkt, wo selbst der raffinierteste Grenz – oder Kulturbeamte niemals erreichen wird: ich hatte mich zu Fuss, aber nicht mit gesenktem Haupt, auf die Suche nach einem Zimmer gemacht. Der Ort Praia do Vitória war nah und zu Fuss zu erreichen, alles hier wirkte verschlafen und endlich! konnte ich die einmalige Landschaft der Azoren mit eigenen Augen, mit allen Sinnen erleben. Vergnügt kam ich an vereinzelten Häusern vorbei, alle waren schmuck und sauber weiss gestrichen, sie hatten ihren unverwechselbaren Charme, ich war wieder der Vogelfreie, mir konnte sowas rein gar nichts anhaben. Kam an einem weiss getünchten Haus vorbei, die Rahmen der grossen Fenster hübsch in Rosa und Himmelblau. Die hier traditionell bestickten und strahlend weissen Vorhänge zugezogen. Aber da war etwas. Ich musste nochmal hinschauen und sah die Silhouette einer weissen Katze. Zwischen Vorhang und Fenster, gut sichtbar. So rein und weiss, wie das Haus selber. Aber da war noch etwas. Ich musste innehalten und da sah ich es: die weisse Katze hatte ein rosa und ein himmelblaues Auge!
Jetzt, das! das ist der Moment, wenn die Götter einem zuzwinkern! Hast du es gesehen!? Nein, das ist keine Camouflage, da sitzt eine lebendige, weisse Katze in einem von himmelblau und rosa eingefassten Fenster und blickt mich mit einem rosa und einem himmelblauen Auge an! Nein! Sie blickt mich nicht nur an, ihr Blick fixiert, nagelt mich fest, in ihrem Blick liegt die unzweideutige Frage: «hast du mich gesehen!? Hast du mich richtig gesehen!?»
Das ist sie, die Sprache der Wunder! Und nur so kommt sie zur Sprache, so will es das Gesetz.