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Salto Immortale

Sagt man von Jemandem, dass er in dem und dem Gebiet bewandert sei, dann muss das ja nicht zwingend heissen, dass er das auch nur mit seinen Füssen bewerkstelligt.
Dann ist eher die Rede von einem Bereich, in dem er sich mit seinen besonderen Fähigkeiten hervortun kann. Da ist er Spezialist.
Ich bin auch in gewissen Bereichen bewandert. Ich denke, in mehreren sogar.
Doch hier meine ich bewandert im wortwörtlichen Sinn. Es geht um eine Wanderung, oder Bergwanderung, je nach dem. Es gibt im Alpinismus den Begriff «Schwierigkeitsskala». Hier geht es, nach der offiziellen Bewertung, um den Schwierigkeitsgrad T2. Leider können selbst hier, in diesem Gelände hinterhältige Tücken auflauern und ehe man sich’s versieht ist es geschehen. Eigentlich spielt der Schwierigkeitsgrad nicht unbedingt die allesentscheidende Rolle – wichtiger noch – Kontrolle. Was nützt all die Erfahrung, sollte das System, unser Organismus ohne Warnruf, kurz nur, überlastet sein. Für nur eine Millisekunde. Und das bei mindestens hundert Schritten pro Minute. Somit sechstausend in der Stunde. Also an einem Mangel an Möglichkeiten sollte es nicht fehlen. Himmel und Hölle trennen oft nur Millisekunden und Millimeter.
Ein beinahe wolkenloser Himmel könnte darüber hinwegtäuschen, dass nur immer die Sonne scheint. Das meine ich aber nicht im wortwörtlichen Sinn. Besonders gerade dann, wenn alles «in Minne» zu sein scheint, kann es passieren, dass ausgerechnet dann einem plötzlich der Boden unter den Füssen weggezogen wird.
Für heute ist ein sonniger, heisser Tag angesagt, mit leichter Tendenz zu Bise. Aber für diese Jahreszeit ungewöhnlich heiss. Ja, man spricht über die Klimaerwärmung. Und über das Klima zwischen uns Menschen? Nein, da wird es schon schwieriger. Reine Ermessensfrage und die gilt nicht für jeden gleichermassen. Dann war mal die Rede von hohen Ozonwerten. Jedem sein ganz persönliches Klima. Also eine ganze Fülle an verschiedenste Klimata. Nicht zu vergessen, die politische. Wer sagt, dass das höchst angespannte politische Klima zwischen Ländern, die weit weg von uns gar keinen Einfluss auf unser Befinden ausübe? Das ist mit unseren gewöhnlichen Massstäben gar nicht mess – oder – berechenbar.
Aber es ist nicht nur der Saharastaub, enorme Vulkanausbrüche, Waldbrände in Kanada, die unsere Sicht trüben kann. Wir werden beeinflusst, ohne dass wir das gross merken.
Dann gibt es so unendlich viele Möglichkeiten, wie Spannungen aus dem Ruder laufen können. Ich möchte sie nicht alle aufzählen müssen. Sinnlos. Ich kann mir kaum mehr einen Ort vorstellen, wo es noch gemütlich und sorgenfrei leben lässt. Aber alle tun, als ob.
Also – ab in die Berge! In den Bergen soll es noch eine heile Welt geben. Soll. Aber selbst diese Zeiten sind passé. Ist es ein Fluch oder ist es ein Segen, dass die Alpen, die Bergwelt heute so erschlossen ist? Ich kenne beides. Da, wo ich wohne gibt es Bergbahnen. Und die nutze ich nicht selten. Aber nicht nur. Und dann die Gebirgswelten in Zentralasien, Karakorum, Pamir, Himalaya. Da, in einem Gebiet, im Hunza, da habe ich mein Herz verloren. Was für eine grossartige Welt, was für Leute! Was für eine Erfahrung! Im Pamir war ich sogar für zweimal Touroperator. Nicht nur wegen der dünnen Luft schlug mein Herz höher. Nein, diese unberührten Weiten, diese Höhe, das Licht, diese Gastfreundschaft! Grandios! Was kann man sich Schöneres vorstellen, als von Jurte zu Jurte zu ziehen unter einem Himmel zu schlafen, der einem buchstäblich den Schlaf rauben könnte, wären da nicht die weichen Decken in denen man versinken kann und durch den Tundyuk, das Loch oben in der kirgisischen Jurte, den Himmel zu betrachten? Der Tundyuk, der zum Symbol in der Flagge Kirgistans geworden ist? Unvergesslich. Atemberaubend. Und trotzdem lässt es sich herrlicher nicht schlafen!
Also, zurück zum Anfang, zurück in die Heimat. Warum nur hadere ich manchmal mit dem Begriff «Heimat»?
Nochmals, gehen wir wieder zurück zum Motiv, warum ich meine Füsse lieber in die Berge setze, wie auf asphaltierte Strassen.
An die Arbeit! Vor mir liegt ein ganzer Berg und glücklicherweise verhilft mir eine Seilbahn über die erste Hürde und setzt mich mitten im Geschehen ab. Gleich darunter die gutbesetzte Alpwirtschaft. Lustig, wie die Sonnenschirme in der leichten Brise flattern, als möchten sie mir zuzwinkern. Ich bin jetzt aber nicht in die Berge gekommen, um herumzusitzen. Ja, der Anfang wird mir leicht gemacht. Der Weg führt erst zum Bach hinunter, nach der Brücke aber heisst es – wie mein Vater immer sagte: auf die Zähne beissen! Plötzlich ist der Wind weg. Und es wird heiss. Dennoch leistet mein Organismus sein Werk, ich komme voran, was sonst. Heute bin ich allerdings nicht allein. Ein junger Mann kommt mir entgegen, auf dem Rücken ein Baby, es schläft im Schatten der Trage. Ich lache dem jungen Vater zu, aber ein bisschen wundere ich mich doch, ich kenne den Weg, ich kenne das Risiko und das mit einem Baby auf dem Rücken? Weitere Wanderer folgen, einer hat seine teure Kamera auf Brusthöhe aussen am Rucksack für schnellen Zugriff befestigt. Das habe ich mir auch schon mehrmals durch den Kopf gehen lassen, darum spreche ich ihn an: geht das gut so? Was ist, wenn du mal stolpern solltest? Er lacht und ruft heiter: dann habe ich Pech gehabt! Ja, diese teuren Kameras! Ich könnte mir so einen Lapsus niemals leisten. Ich weiss auch, dass es manchmal um Sekunden gehen kann, will man einen – den Moment mit der Kamera auffangen. Eine besondere Stimmung kann sich im Nu ändern, weg ist sie. Aber warum nur habe ich ihn darauf angesprochen!? So etwas wie eine Vorahnung?
Gleich darauf die Brücke über den Wasserfall – «un Salto», wie sich das in Südamerika nennt. Aufatmen, das Geräusch des Wassers ist eine reine Wohltat. Das kühlt nur schon vom Hören und vom Sehen. Es folgt sanfter Anstieg, danach steil, danach wieder etwas sanfter, dann der Rest, zum Teil auf Bodenebene mit Ketten gesichert. Wie hat das bloss der junge Vater mit seinem Baby auf dem Rücken gemacht? Sagt er, falls er stolpern – und das wird einem hier leicht gemacht – oder gar stürzen sollte, auch – Pech gehabt!?
Schon bin ich oben bei der Hütte, mein Ziel, aber die Definitionsfrage meines Ziels ist nicht restlos geklärt. Die Hütte bedeutet ja eigentlich nur den Wendepunkt, markiert als Ziel erst die Hälfte, denn da oben will ich ja nicht bleiben. Nicht mal für eine Nacht, mit anderen Worten, das endgültige Ziel heisst auch wieder an den Ausgangsort, nach Hause zu kommen. Erst dann ist der Auftrag erfüllt, erst dann kann ich den Schlussstrich ziehen, Ende, Punkt, Amen, Aus.
Was ist mit dem, der den Everest zwar bezwungen hat und beim Abstieg tödlich verunglückt – wie verhält es sich dann mit dem Ziel!?
Aber das war ja auch nur ein Testlauf für meine neuen Schuhe gewesen und schaue mich nach einem Schattenplätzchen um. An einem Thermometer bemerke ich: 20° und das auf 2000M. Hinter dem Haus ist der einzige Schattenplatz, der Blick geht über das Tal bis das Tal einen Bogen macht, der dem stürmischen Wetter nicht selten einen Strich durch die Rechnung macht, das Tal versteckt sich, der winterliche Sturm findet den Eingang oft erst mit zweitägiger Verspätung, dann aber kennt er keine Gnade. Jetzt sehe bis zu dem Dorf, wo ich wohne mit seinem massigen Kirchturm, es scheint ein Katzensprung. Mein Blick bleibt am Kirchturm hängen, die Sicht von hier ist mir zwar nicht ganz unvertraut, dennoch, ich lebe hier und ich fühle mich nicht eingebunden, ein – Fremder? Da muss es etwas geben, in das ich niemals ganz eindringen werde. Aussenseiter? Aussenseiter zu sein bedeutet ja nur, dass ich nie ganz richtig dazu gehören werde, mir kann das zwar gleichgültig sein, und doch. Eigenständig ja, aber das beinhaltet auch, Selbstvertrauen zu haben und schon sind wir an meinem Punkt, meinem wunden Punkt. Meine Eigenständigkeit ist der Pakt, den ich mit meinem Leben eingegangen bin, er wird mich bis an mein Ende begleiten. Das muss ich einsehen. Ja, ich weiss schon, wo ich mein Selbstvertrauen finden kann, ganz einfach. Und das ist genau hier, im Gebirge. Hat aber sehr viel mehr mit der rauen Natur zu tun, wie mit Menschen, die hier in jedem neu Zugezogenen, und da gibt es einen besonders abschätzigen Begriff dafür: «än Zuechezogne!?» sehen und es gar nicht anders sehen wollen. Das ist genau der Punkt, man lässt mich spüren, dass ich ein Fremdkörper bin und auch bleiben werde. Da kann ich lange sagen, dass ich die Berge hier besser kenne, wie so mancher Einheimische. Dass das meine Muttersprache ist nützt mir wenig, denn sobald ich meinen Mund aufmache, sind es noch so feinste Nuancen, sie hören das und lassen es mich auch mal spüren. Sie können ja auch nicht wissen, dass mein Grossvater Bergführer war, dass ich mit fünfzehn Jahren bei Grossmutter abgehauen bin, ohne was zu sagen und den Ortstock – im Alleingang wohlgemerkt, bestiegen hatte. Also da gibt es einen Mix in meinem Blut, darin pulsiert ebenso die Luft wie die unbändige Lust, die mich in den Bergen so heimlich heimisch fühlen lässt.
Die Wirtin, oder Hüttenwartin, je nachdem, hat mir auf meine Frage einen Schokokuchen gebracht, dazu eine kühle Cola. Beides geniesse ich und denke, schade zwar, dass ich hier umkehren muss, aber der Zweck der Reise ist erfüllt. Dass aber der Reiz noch ein ganz anderer sein kann, davon weiss ich noch rein gar nichts. Ist auch besser so.
Ich freue mich auf den Rückweg. Wie oft bin ich den gegangen. Es gibt eine Stelle in der Schlucht, da kann ich mich so richtig gehen lassen, reiner Genuss. Die Sicht in die tiefe Schlucht lässt mein Herz höherschlagen. Nichts kann da passieren, der Weg ist sicher, ein Stück weit sogar eben. Am Liebsten habe ich, wenn es auf der einen Seite steil hinunter geht, auf der anderen steil hoch. Ich kann meinen Blick schweifen lassen, es gibt zur richtigen Zeit am richtigen Ort eine Feuerlilie, jetzt, zu dieser Jahreszeit wäre der richtige Moment. Aber bei Feuerlilien muss man aufpassen, man kann sich die Finger verbrennen. Oder auch ver-rennen. Darum, den Blick immer schön auf den Weg gerichtet! Also aufgepasst! Noch bin ich nicht soweit. Gehen ist auch wie ein Vergehen, Vergessen, was hinter mir liegt. Aber man darf sich selber nicht vergessen. Niemals. Ein einziger Fehltritt und es ist geschehen.

Es geht bergab. Ich rechne mit zwei Stunden und um sechs werde ich zuhause sein. Dass ich früher zurückkomme, davon weiss ich noch nichts.
Es sind, wie bei dem Wetter, nicht anders zu erwarten, einige Wanderer talwärts unterwegs. Ein Gleitschirmflieger startet gerade, reinstes Bilderbuchwetter. Noch bin ich nicht weit gekommen, nähern sich von oben zwei, einer davon ein Seil über den Rucksack gelegt. Ich nehme Notiz von dem jetzt für jüngere Bergsteiger trendigen Outfit. Sie nähern sich, es wird nicht zu vermeiden sein, dass sie mich überholen. Passieren und da frage ich: woher kommt ihr? Vom Gletscherhorn, lautet die Antwort. Was ich weiss, Gletscher gibt es da nicht mehr. So manches schwindet.
Überholen.

Jetzt kommt der erste steile Abstieg. Der Abstand zwischen den beiden und mir wird deutlich grösser. Sie sind schon bald bei der Brücke. Ich blicke ihnen nach. Da ist etwas in mir drin, was registriert, dass ich von etwas Abschied nehmen sollte, das früher mit einer klaren Selbstverständlichkeit noch zu mir gehörte. Es ist ja nicht nur das Alter, es sind auch nicht mehr dieselben Konditionen von einst. Das sitzt tief. Ich weiss, ich sollte mich damit arrangieren. Aber warum gelingt mir das nicht wie gewünscht, ich versichere mich ja immer und immer wieder, ich habe dafür andere Qualitäten. Genau, meine Qualitäten. Das habe ich ihnen voraus. Aber jetzt sind sie mir voraus. Und es sieht ganz so aus, als hätte ich das noch nicht hundertprozentig verarbeitet. Nein, da fehlt noch ein winzig kleiner Teil, bis ich das richtig und vernünftig verarbeitet habe. Ein einziger Schritt nur. Ein kleiner Schritt nur, kann Grosses bewirken. Dieser verflixte eine Schritt. Dieser einzige Punkt. Nur diesen einen Punkt muss ich noch schaffen.

Mit Sicherheit bin ich genau an diesem einen Punkt hängengeblieben.

Ein Wimpernschlag, ein Zucken des Lids und weg bin ich. Der eingefrorene Moment, der Blick, wie ich kopfvoran in die Tiefe stürze ist das Letzte, was mir geblieben ist. Wie und was da geschehen ist, tritt in einem einzigen Augenblick im Angesicht der Ewigkeit ein. Alles ist weg. Der Film gerissen. Und doch, ich lebe. Im Körper drin rasen Informationen, tasten alle Körperfunktionen, jedes Glied nach seinem Zustand ab. Nur aber mit dem Verstand hapert es. Das Hirn hat sich ausgeklinkt. Leer. Ich weiss noch nicht, dass man das Schockstarre nennt. Langsam sickert in mein Bewusstsein, dass ich am Leben bin. Ist etwas verletzt, gebrochen? Noch bin ich nicht imstande, das mit absoluter Sicherheit zu klären. Klar ist nämlich rein gar nichts. Nur, dass ich lebe. Vorsichtig setzen sich meine Augen wieder in Bewegung. Mein Körper verharrt in seiner Starre, bis er endlich reagieren kann. Festhalten. Klammern. Ich klammere mich an mein Leben, das vor einer oder zwei Sekunden noch so ungetrübt und ahnungslos auf seinem Weg ins Tal gewesen war. Genau, da hänge, oder stehe, nein, kralle mich an Erde, an die Böschung mit Büscheln von Gras, gleich nebenan ein Zweig einer Grünerle. Ich kralle mich an mein Leben wie ein Verliebter an seine Braut. Loslassen hätte Absturz zur Folge haben können, ich bin nicht imstande einen einzigen Gedanken zu formen, was das Unberechenbare nach sich ziehen könnte – wertvolle Sekunden verstreichen, ohne  Reaktion, ich muss mühsam meine desolate Lage erfassen, überdenken, zu einem Entschluss kommen, denn jederzeit muss ich damit rechnen, ungewollt in die Tiefe zu rutschen, den Halt verlieren. Was ist da bloss geschehen, wie bin ich bloss in diese Lage geraten!? Nur jetzt nicht ins Gras beissen! Das, was man Böschung nennt, ist nur wenige Zentimeter vor meiner Nase. Langsam sickert in mein Bewusstsein, dass durch das Gewicht meines Körpers, akute Abrutschgefahr besteht. Ich aktiviere erst meine Hände, dann aber sofort einen meiner Füsse, der vorsichtig versucht, besseren Halt zu finden. Vorsichtig. Jetzt muss ich mit meinen Augen meine Lage erkunden. Was ich sehe, erschüttert mich: der Rucksack liegt verkehrtherum mit der Öffnung nach unten, da liegt die Hülle meiner Kamera, die Wasserflasche und andere, weniger wichtige Dinge. Die Kamera? Nein, erst stabilisieren. Wichtig. Jetzt muss ich entscheiden, Prioritäten setzen, wie das heisst. Versuchen, mich zum Weg hochziehen? Meine Kamera? Ich sehe sie nicht. Wie ist die Beschaffenheit des Hangs unter mir? Steil, aber nicht lebensgefährlich. Immerhin.
Aber erst muss ich alle meine Sinne wieder zurückholen und die Gedanken ordnen.
Zwangsläufig muss ich meine Lage in den Griff bekommen. Vorsichtig suche ich Halt weiter unten, ich muss ja meine Habseligkeiten zusammensammeln. Von unten her, da trau ich mich nicht, ist mir zu unsicher. Ich glaube, so sorgfältig war ich im Gebirge noch nie. Jede falsche Bewegung, jeder falsche Entschluss könnte fatale Folgen haben. Aber ich habe keine Wahl. Das Gebüsch der Grünerle unterhalb macht mir Mut. Das Erste ist der Rucksack. Dann die Wasserflasche. Etwas tiefer die Hülle der Kamera. Aber die ist leer. Wo ist meine Kamera!? Ich muss noch tiefer. Gedanken haben in dem Moment keinen Zutritt. Mit dem Fuss muss ich weiter hinab. Aber man weiss nicht, was unterhalb lauert. Könnte es ein kleines Felsband geben? Mir bleibt keine Wahl. Notfalls kann ich mich an den Zweigen des Gebüsches festhalten. Endlich! Da liegt die Schlaufe, greife danach und meine Kamera scheint einigermassen in Ordnung zu sein. Am Objektiv klebt Erde. Gut ist der Objektivdeckel drauf. Wer sagt, dass die Kamera keinen Stoss abbekommen hat und funktioniert? Notdürftig verstaue ich alles im Rucksack und steige an Grasbüschel und Zweigen wieder hoch. Erst zum Weg zurück und dann die Lage überdenken. Ich ziehe mich hinauf und schon habe ich wieder festen Boden unter mir. Setze mich auf den Weg. Gut, dass niemand herunterkommt. Endlich. Ich atme auf, nehme einen Schluck aus der Wasserflasche. Die Kamera? Die befreie ich provisorisch von den Erdresten. Ein Testbild machen. Checke ebenso meine Funktionen. Nichts gebrochen, kein Kratzer nichts. Jetzt dürfen sie wieder reinkommen, die Gedanken, hereinspaziert, alle Sensoren sind eingeschaltet. Aber bitte nicht alle aufs Mal!  Später würde ich mich an das Bild erinnern, damals wie ich von Mexiko City nach Houston mich bei der Fluglinie für den Weiterflug nach NYC melden wollte. Eine ganze Schar aufgeregter Französinnen stürmten den Schalter, der Mann dahinter, auf den sie alle gleichzeitig einreden wollten, blieb völlig gelassen, liess sie für den kurzen Moment auflaufen und sagte, nicht aus der Ruhe zu bringen, in dem er eine Hand hob und wie ein Messer heruntersausen liess: «Please, form a Line.» Anders gesagt: «One by one».
Langsam kehrt meine Sprache wieder zurück. Ich blicke auf. Was ist da bloss geschehen!?
Ich habe etwas erlebt, was der eine oder andere möglicherweise nicht überlebt!
Die Wand vor mir, aus Gras, Stein und Erde, tritt zurück und gibt den Blick in die Weite frei. Ich habe mich aus einem ziemlichen Schlamassel befreit. Nur aber, wie hat das geschehen können – ich stürze kopfvoran und finde mich Sekunden darauf an die Erde gekrallt und das alles mit dem Kopf, wie es sich gehört, nach oben!? Das ist unlogisch, theoretisch gar nicht möglich. Aber doch: Bei Katzen, ja. Von denen weiss man, dass sie sich im Sturz zuverlässig so drehen können, dass sie auf den Beinen, auf ihren Samtpfoten landen. Nur, steckt denn etwas Katzenartiges in mir? Nicht dass ich wüsste. Jetzt könnte man das leicht als Wunder sehen.
Später würde mir jemand sagen: «Da hast du aber einen Schutzengel gehabt!»
Das mit dem Schutzengel würde mich aber auch ins Grübeln bringen. Ich würde mich fragen, mit was verbindet man diese Schutzengel!? Und schon bin ich wieder bei einem alten Thema, das mir seit jeher Kopfzerbrechen verursacht.
Denn bei Wundern wie bei Schutzengeln wird mir etwas zu rasch Religiöses ins Spiel gebracht. Und was ist bei mir? Ich habe zu viele «Wunder» erlebt, als dass ich ihnen einen gemeinsamen Nenner geben möchte. Sie sind quasi ein fester Bestandteil von mir geworden. Sie kommen immer genau dann ins Spiel, wenn ich nicht damit gerechnet habe. Die glücklichen Fügungen, ein Geschenk. Das ist Serendipität in reinster Form – und das ausgerechnet bei mir? Ja, ich weiss, ausgerechnet bei mir. Vielleicht als eine gewisse Kompensation zu dem, was ich in meinen jungen Jahren alles erdulden musste. Schutzengel – wo bist du? Wer bist du? Woher kommst du!?
Aus dem Himmel? Wo und was bedeutet Himmel? Die Krux mit dem Kreuz. Den Jesus, den meine Mutter mehr zu lieben schien, wie ihren eigenen Sohn – alles drehte sich nur um ihren Jesus. So unerreichbar stand ihr Jesus über mir. Und ihr Sohn, verletzlich, der von Mutter nie liebevoll in den Arm genommen worden war, doch Vaters langen Arm mehr fürchtete wie Gottes Zorn.

Ewig kann ich ja nicht hier auf dem Weg sitzen bleiben. Ich muss mich aus der Starre lösen, sammle meine sieben Sachen zusammen. Wie in Trance. Ich folge einem Gesetz – war das der Wille Gottes? Grossvater? Schaust du mir vom Himmel zu?  Da muss es etwas zwischen Himmel und Erde geben. Aber erstmal muss ich möglichst rasch weg von hier.
Vorsichtig und etwas unsicher mache ich mich auf den Weg. Schnell wird mir klar, dass ich mit der Seilbahn runterfahren werde. Nur geschwind nach Hause. Aus dem Staub machen. Da ist zu viel Staub in mir aufgewirbelt worden. Mit kühlem Bier runterspülen, es wartet schon. Runterkommen, physisch wie mental. Nur schnell mich in Sicherheit bringen. Das Ganze versuchen zu analysieren. Zu verarbeiten. Obschon ich nicht im Geringsten verletzt worden bin, sitzt das tief in den Knochen. Den Druck loswerden, darum, wichtig, mich mitzuteilen. Erst rufe ich meine Tochter an. Es wird bei einer rein emotionslosen Mitteilung bleiben. Ich will sie einfach bloss unterrichten. Dann, auf Gertrud ist Verlass, sie ist vielleicht die Einzige, die mit menschlichen Abgründen so viel Erfahrung hat und sie zu analysieren weiss. Den Freund, den ich am Längsten kenne, werde ich dann erst mit der fertigen Geschichte unterrichten.

Mit jeder Person verbindet mich eine ganz eigene Weise zu kommunizieren. Da ist P.,  sorgfältig und gründlich wie immer in seinen Gedankengängen, als Arzt ist das sicher schon die halbe Miete. Er hört mir zu ohne mich je zu unterbrechen. Dann folgt etwas, das mich zutiefst berührt. Sein Tonfall, seine Bemerkung drückt eine Wertschätzung mit wenigen Worten aus, was mir bis heute noch nie begegnet ist:

«Schön, dass es dich noch gibt!»

Dieser Sturz scheint mir viel in Gang gesetzt zu haben.